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Privatheit im öffentlichen Raum - Medien (-ver-)handeln zwischen Individualisierung und Entgrenzung

Privates wird öffentlich verhandelt. Intime Beziehungen, Vertraulichkeiten, Momente ungeschützter Ergriffenheit - das Fernsehen holt sie aus den Räumen der Diskretion heraus und stellt sie öffentlich aus. Die Real Life Soap "Big Brother" ist dafür ein herausragendes Beispiel. Die Sendung hat kontroverse Diskussionen darüber ausgelöst, was es für die Kultur einer Gesellschaft bedeutet, wenn die Grenzen dessen, was öffentlich gezeigt und verhandelt werden kann, verschoben werden. Auch wenn unterdessen andere Formate mit "authentischen" Geschichten aus dem Alltag die Gunst des Publikums finden, ist die öffentliche Debatte mit der Sache noch nicht am Ende: Handelt es sich um eine "Grenzverschiebung" also einen Wandel im Verhältnis von Privatem und Öffentlichem oder um die Erosion einer tragenden Säule im "Prozess der Zivilisation"?

Das Projekt will zur Klärung beitragen. Es beschreitet dazu mehrere Wege. Ein erstes Projektmodul dient der theoretischen Vergewisserung darüber, welchen "Sinn" die historische Erfindung hat, die Privatheit von der öffentlichen Sphäre zu scheiden. Unter Rückgriff auf sozialhistorische, gesellschafts- und kulturwissenschaftliche Arbeiten lässt sich zeigen: Die Privatheit ist eine unaufgebbare Grundlage für Autonomie und Selbstbestimmung moderner Individuen. Das kulturelle Potenzial des Fernsehens ist in Hinsicht auf diesen gesellschaftlichen "Sinn" der Privatheit ambivalent: Fernsehen kann als kulturelle Ressource für die Entfaltung des privaten Lebens in einer "posttraditionalen" Gesellschaft fungieren; mit Inszenierungsweisen, die dem "Intimitätskult" und der paradoxen Konvention der "Authentifizierung" Vorschub leisten, beschädigt es durch die Banalisierung indiskreter Wahrnehmungsweisen und die Normalisierung einer ressentimentgetragenen Form der Personenwahrnehmung die kulturellen Grundlagen der Privatsphäre.

Das Europäische Medieninstitut hat als Kooperationspartner Ländergutachten aus den Niederlanden, Großbritannien, den USA und Japan zu derselben Problemstellung eingeholt. Sie erlauben einen Vergleich, der die spezifischen sozialen und kulturellen Voraussetzung für die Veröffentlichung des Privaten zum Vorschein bringt.

Ein zweites Projektmodul rekonstruiert gesellschaftliche Debatten über die mediale Ausstellung privaten Lebens, die in den zurückliegenden Jahrzehnten der bundesdeutschen Fernsehgeschichte geführt worden sind. An der öffentlichen Diskussion über "anstößige" Sendungen lässt sich ablesen: Das Fernsehen und sein Umgang mit Privatmenschen war ein Feld der kulturellen Auseinandersetzung zwischen einer konservativen Position, die die Geltung sozialer Pflichtwerte zu bewahren trachtete, und einer libertären Auffassung, die die ‚legitime öffentliche Erscheinung' in die Entscheidungsfreiheit der Individuen überantwortete. Mit dem Aufkommen kommerzieller Anbieter verliert sich das Zutrauen beider Diskurslager, das Fernsehen als Instrument der Gesellschaftspolitik handhaben zu können. Der Fernsehdiskurs zieht sich auf die Position eines Beobachters zurück, der das populäre Vergnügen als Zeichen - teils problematisierter - gesellschaftlicher Befindlichkeiten liest. Die historiographische Rekonstruktion begreift in diesem Sinn die fernsehbezogenen öffentlichen Diskurse als Dokument, zugleich aber auch als Medium, durch das der soziokulturelle Wandel im vorherrschenden Verständnis der Privatheit nicht nur festgestellt, sondern auch festgesetzt wird. Das Projektmodul wurde in Kooperation mit Prof. Dr. Knut Hickethier vom Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften der Universität Hamburg durchgeführt.

Ein drittes Projektmodul - realisiert vom Europäischen Medieninstitut - setzt sich mit dem privaten Menschen in der Netzwelt auseinander. Auf der Basis einer umfassenden Recherche im Internet werden Formen der Selbstdarstellung auf privaten Homepages beschrieben und zu Typen zusammengefasst. Dabei werden auch die individuell gezogenen Grenzen der netzöffentlichen Selbstpräsentation sowie die subjektiven Motive für diese Form des Selbstausdrucks eruiert. Ergänzend wird gezeigt, inwieweit Medienanbieter das unregulierte Netz nutzen, um die Schaustellung von Privatleuten weiter zu treiben als in Sendungen.
Ergebnisse der Studie "Privatheit im öffentlichen Raum" sind in einer Kurzversion zum Download verfügbar, die Studie kann zudem als Publikation im Verlag Leske + Budrich online bestellt werden.

Publikationen:

Weiß, Ralph (2008): Das medial entblößte Ich – verlorene Privatheit? In: Jurczyk, Karin/Oechlse, Mechthild (Hrsg.): Das Private neu denken – Umbrüche, Diskurse, offene Fragen. Münster, S. 174-191.

Weiß, R.; Groebel, J. (Hrsg.) (2002): Privatheit im öffentlichen Raum. Medienhandeln zwischen Individualisierung und Entgrenzung? Opladen.

Verantwortlichkeit: